Leben in Zeiten des Corona-Virus von Anne Krickeberg

„Ich habe soeben einen kleinen Tagebuchbericht für die KGMM geschrieben, den ich nach leichter Veränderung gern mit sende und 1Bild aus meinem derzeitigen Beschäftigungsumfeld: ein Pferd, mit dem ich spazierend einkaufen gehe.

01.05.2020 / bearb. 13.05.20
 
Als die Schließung der Institutionen bekanntgegeben wurde, breitete sich bei mir großer Aktionismus aus: der komplette Unterricht wurde – zack, zack – auf Videokonferenzen umgelegt. Euphorie, Begeisterung über die Möglichkeiten der Technik, Lust am Neuen, Freude über ein Wiedersehen am Bildschirm…
Die Tage verflogen mit Recherchen, Tutorials, Organisation.
Gerade in diesem Frühjahr hatten sich besonders viele -teilweise gut dotierte- Konzerte angeboten, auf die ich mich freute.
 
Sie sollten auch eine längere Weiterbildungszeit zur Kommunikation mit Pferden finanzieren, die ich ab Juni vorgesehen hatte.
Ein Projekt nach dem anderen wurde abgesagt.
Es bestehen nur noch skeletthafte Fragmente, Überreste, die vielleicht und teilweise mühsam zusammengeflickt werden können – wobei es sich lohnen mag, hier genauer hinzuschauen, z.B. was daran mühsam ist. Vielleicht wollte ich zu viel?
 
Jetzt geht es darum zu sortieren, was wirklich wichtig ist. Dies ist die perfekte Zeit, nach „innen“ zu schauen, ohne das „außen“ zu vergessen.
Ich denke an die Geschichte der Arche Noah, wo Noah sich auf das Wichtigste besann, bevor die Sintflut kam.
Zu einem gewissen Teil habe ich mir die jetzige Situation gewünscht.
Die Welt atmet durch, zumindest wer kann…
Wie steht es um die emotionale Situation?
 
Der beste Weg, mit Ärger oder Traurigkeit umzugehen ist, es zuzulassen, hinein zu gehen.
 
Die Isolation lässt mich zwischenmenschliche Prozesse intensiver erleben – vor allem dann, wenn sie nicht harmonisch verlaufen. Genauer gesagt: bei den geringsten Komplikationen rege ich mich auf und werde extrem ärgerlich. So, als ob sich eine angestaute Energie Luft machen möchte.
Vielleicht steckt darin auch eine Prise Existenzangst – jedenfalls Unsicherheit, Ungewissheit, Orientierungslosigkeit.
 
Ich fühle mich schnell unter Zeitdruck: habe das Gefühl, nicht alles zu schaffen, was auf dem Programm steht. Und das, obwohl so vieles wegfällt?
Ich habe keine Zeit, die Wohnung zu säubern, sitze am PC oder Telefon. Keine Zeit, ausgiebig zu üben, obwohl ich mich darauf gefreut habe. Keine Zeit, Zeitung zu lesen, die sich schon lange stapelt.
 
Die gewohnte Praxis der Meditation und des Yoga führt zu Stabilität. Der musikalisch-therapeutische Aspekt wirkt auch hier.
Ich finde mich in einem großen Netzwerk aufgehoben, bin im Austausch mit Kolleg*innen, per Telefon oder Videokonferenz. Dadurch sehe und höre ich mehr von ihnen als sonst.
 
Ansonsten bin ich mit Onlineunterricht und Aufnahmen für meine Schüler*innen beschäftigt. Es wartet die Veröffentlichung zweier Kompositionen in einem neuen Verlag. Die Archivierung älterer Klangkunstprojekte mit youtube kostet sehr viel Zeit, macht aber auch Spaß. Was habe ich teilweise für lustige Sachen gemacht:-)…
 
Mit einem Orchester arbeite ich an einer Aufnahme, die vom WDR in der Kölner Philharmonie gemacht werden soll. Dies zieht sich ins Ungewisse hin, aber es gibt zumindest teilweise das Gefühl guter Kooperation (teilweise auch nicht).
 
Die Informationen, die mich erreichen und die ich zulasse, balancieren sich gegenseitig aus, auch wenn es auch hier zeitweiliges Ungleichgewicht gibt.
 
Ich bin jeden Tag im Pferdestall, lerne sie zu verstehen, füttere die Tiere, führe sie spazieren und habe auch wieder mit Reiten begonnen.
Die Bewegung an der frischen Luft und der Kontakt mit auch hier Gleichgesinnten tut gut, auch wenn das Abstandhalten eine ungewohnte Komponente hat.
 
Es ist wohl am besten, nicht zu viele Medienberichte anzuhören und zu sehen, die sich teilweise extrem widersprechen (wenn man Filme auf youtube u.a. einbezieht). Ja, die Vielfalt ist da und auch gut. Die Spanne der unterschiedlichen Perspektiven erschien mir riesig. Dies kann Spannung erzeugen, wie es derzeit auch in gesellschaftlicher Dynamik zu beobachten ist.
 
Das Spielerische im Gegensatz der Perspektiven könnte öfter entdeckt werden. Ein Feindbild wird derzeit gelegentlich im Politiker, Nachbarn oder einem Virus gesucht…
 
Intensive Nutzung der digitalen Medien ermöglicht zunehmende Kontrolle, aber jede/r Einzelne gestaltet ja die Welt mit.
 
Alles Denkbare ist Realität.
 
Was denke ich also?
 
…alles entwickelt sich langsam, ich brauche mehr Zeit…es darf aber (wegen des Ausbalancierens) auch nicht zu lange dauern…reicht die Zeit, damit das Wesentliche erkannt und gelebt werden kann, und das von allen Menschen?
Oder möchte ich wieder zu viel?
 
Bin gespannt, von Anderen zu hören und freue mich über alles, was ein Teilen anbietet. Vielen Dank!
 

Anne Krickeberg/mindful culture